OBRECHT – masses – beauty farm

The music of the Renaissance appears to reflect little of the dangers, horrors and violent conflicts of its time. Music written during the Hundred Years War or the French invasion of Italy gives hardly any impression to today’s ears of the precariousness of existence of which its composers, singers and listeners must have continually been aware. Nor do the two masses by Jacob Obrecht (1457/8 – 1505) on this recording betray anything of the restless spirit of the age, despite them both being based on models referring to suffering and misery.


In der Musik der Renaissance scheint sich wenig von den Grausamkeiten, Gefahren und gewalttätigen Auseinandersetzungen der Epoche widerzuspiegeln. Die Musik, die während des Hundertjährigen Kriegs oder der französischen Invasion in Italien geschaffen wurde, vermittelt heutigen Ohren kaum je eine Ahnung von der Gefährdung des Daseins, die ihren Komponisten, Sängern und Hörern ständig bewusst gewesen sein muss. Auch den auf dieser Aufnahme zu hörenden beiden Messen von Jacob Obrecht (1457/58 – 1505) hört man die Unruhe ihres Zeitalters nicht an. Und doch gehen beide auf Vorlagen zurück, die auf Leid und Not Bezug nehmen.

Jacob Obrecht - Masses - beauty farm
artist

OBRECHT – masses – beauty farm


beauty farm

Bart Uvyn [countertenor]
Jon Etxabe Arzuaga | Florian Schmitt [tenor]
Joachim Höchbauer [bass]


fb 1905157
2 CD
Gesamtzeit ca. 94 min.
EAN 4260307431570


released in April 2019

tracks

OBRECHT – masses – beauty farm


Jacob Obrecht   (1457/58 – 1505)


A
Fortuna desperata   a 3 [Antoine Busnois]
Missa Fortuna desperata a 4


B
Maria zart   traditional church song
Missa Maria zart   a 4


Booklet-Text

In der Musik der Renaissance scheint sich wenig von den Grausamkeiten, Gefahren und gewalttätigen Auseinandersetzungen der Epoche widerzuspiegeln. Die Musik, die während des Hundertjährigen Kriegs oder der französischen Invasion in Italien geschaffen wurde, vermittelt heutigen Ohren kaum je eine Ahnung von der Gefährdung des Daseins, die ihren Komponisten, Sängern und Hörern ständig bewusst gewesen sein muss. Auch den auf dieser Aufnahme zu hörenden beiden Messen von Jacob Obrecht (1457/58–1505) hört man die Unruhe ihres Zeitalters nicht an. Und doch gehen beide auf Vorlagen zurück, die auf Leid und Not Bezug nehmen. Dabei dürfte bei der Canzona Fortuna desperata wohl bis heute nicht zu klären sein, wann und warum diese bittere Anklage gegen die „bösartige und verfluchte“ Glücksgöttin verfasst hat und welche edle Frau es ist, deren Ruhm „geschwärzt“ wurde, sodass sie, „die über den Sternen stand“, grausam erniedrigt wurde. Vielleicht kommt es darauf auch nicht an; bewusst hat der Textdichter die konkreten Umstände verschleiert, um so ein allgemein warnendes Beispiel zu geben. Dass dieses schlichte dreistimmige italienische Strophenlied eines der populärsten Stücke seiner Zeit wurde, mag zunächst erstaunen, aber seine zunächst schlicht wirkende, doch höchst expressive Gestalt prägt sich tief ein.

Obrecht jedoch ist an der Expressivität und Simplizität seiner Vorlage eigentlich wenig interessiert, und das, obwohl er nicht nur den Tenor verarbeitet (mit teilweise retrograden Verläufen in Gloria und Credo), sondern an einigen Stellen auch sehr deutlich den Superius, also die höchste Stimme, und sogar den Bass der Canzona zitiert. Obrechts kompositorischer Ansatz in seiner Missa Fortuna desperata ist vielmehr „architektonisch“ genannt worden; diese möglicherweise während seines ersten Aufenthalts in Ferrara 1487/88 komponierte Messe ist geprägt durch symmetrische Strukturen, klare Gliederungen und emphatische Zäsuren: Prägnante Motive werden wiederholt, Phrasen wandern von einer Stimme zur nächsten, Abschnitte werden in Textur oder Metrum voneinander deutlich abgesetzt. Verglichen etwa mit der nur wenig früher entstandenen Missa de Sancto Donatiano (1487) mit ihrer bewussten Hommage an Johannes Ockeghems Ästhetik der Verschleierung scheint sich die Fortuna-Messe geradezu enthusiastisch der neuen Tendenz des späten 15. Jahrhunderts zu Wiederholung als Strukturfaktor zu öffnen. Obrechts Neigung zu Sequenzbildungen, also zu stufenweise ab- oder aufsteigend wiederholten Melodiefloskeln, ist bekannt. Im „Qui tollis“ der Fortuna-Messe wird daraus aber eine neue Qualität: Aus der Kadenzfloskel „Tu solus sanctus“ leitet sich ein Motiv ab, das zu den Worten „Tu solus Dominus“ nicht weniger als sechsmal erklingt in der von Obrecht geliebten, hier aber fast „nackt“ ausgestellten Textur aus parallelen Dezimen in Superius und Bass. Der Effekt ist eindringlich, geradezu magisch; Obrechts dramaturgische Souveränität zeigt sich darin, dass zum Abschluss dieser Passage die Sequenzformel wieder zur Kadenz umgedeutet wird. Ein anderes Beispiel für diese Ästhetik der Ökonomie und Repetition ist das erste Agnus Dei: Es beginnt mit einem wörtlichen Zitat aller drei Stimmen der Canzona – worauf als vierte Stimme der Alt mit einer scheinbar nichtssagenden Kadenzfloskel einsetzt. Im weiteren Verlauf des Satzes jedoch, bei dem nur der Superius die Vorlage bis zum Schluss zitiert, wiederholt der Alt unablässig in leichten Variationen diese vom c zum f aufsteigende und dann kadenzierende Floskel – insgesamt einundzwanzigmal (einmal eine Quinte tiefer). Zugleich wird so, ein weiteres Merkmal dieser Messe, die Grundtonart F lydisch immer wieder bekräftigt.

All diese Verfahren – Ökonomie, Klarheit, Reduktion, Repetition – erinnern an einen großen Zeitgenossen von Obrecht, nämlich Josquin Desprez, und es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade in dieser Messe Obrechts sich ein ganz klarer Josquin-Bezug findet, nämlich zu dessen über dieselbe Vorlage komponierten Messe. Die ersten sechs Takte des Osanna stimmen mit dem Beginn des Agnus III in Josquins Fortuna-Messe beinahe notengetreu überein. Einer der Komponisten muss den anderen bewusst zitiert haben, und es gibt gute Argumente dafür, dass es Josquin war, der Obrecht, den bereits arrivierten und international erfolgreichen Musiker, zitierte.1

Auch die Vorlage der zweiten Messe ist ein Symptom einer krisenhaften, an Gefahren reichen Zeit. Das geistliche Lied Maria zart, von edler Art dürfte um 1500 im süddeutschen Raum entstanden sein; Birgit Lodes vermutet Augsburg als Ursprungsort.2 Jedenfalls entstanden innerhalb weniger Jahre zahlreiche Abschriften, als reiner Text oder mit Melodie. Woher diese erstaunliche Popularität eines zwar schönen, durch die phrygische Tonart durchaus expressiv klingenden, doch textlich keineswegs irgendwie herausragenden Lieds? Wie Lodes gezeigt hat, griffen hier zwei unterschiedliche Aspekte ineinander: Einerseits wurden dem andächtigen Sprecher oder Singen dieses Lieds 40 Tage Ablass (also Befreiung von den Qualen des Fegefeuers) versprochen. Zum anderen versprach es Abhilfe von den „Malafrantzos“, der Syphilis, jener entsetzlichen, aus der Neuen Welt eingeschleppten Geschlechtskrankheit, die sich seit 1493 mit rasender Geschwindigkeit in Europa verbreitete. Das Lied war also nicht nur schön, es war auch von großem Nutzen in Dies- und Jenseits.

Die Popularität von Maria Zart zeigt sich auch an verschiedenen mehrstimmigen Bearbeitungen, deren sicherlich größte und auch großartigste Jacob Obrechts vierstimmige Messe darstellt. Das ist nicht der einzige Superlativ, denn auch in Obrechts Schaffen nimmt dieses Stück eine Sonderstellung ein. Die Messe dauert auch bei zügigen Tempi (wie in der vorliegenden Aufnahme) beinahe eine Stunde und damit fast doppelt so lang wie eine „übliche“ Messe der Zeit. Im Umfang – wenn auch nicht in der Stimmenzahl – überbietet sie somit das andere Monumentalwerk der Epoche, Antoine Brumels zwölfstimmige Missa Et ecce terrae motus. Dabei ist die Missa Maria zart von ihrer Anlage her anderen Obrecht-Messen durchaus vergleichbar – nur hat sie der Komponist einfach in größerem Maßstab komponiert – alles ist sehr viel expansiver gestaltet. Man höre nur, wie gleich zu Beginn des ersten Kyrie der Sopran eine nicht weniger als acht Dreiertakte und eineinhalb Oktaven umspannende erste Phrase singt (auch die anderen Stimmen haben einen nicht gewöhnlichen Tonumfang zu bewältigen). Das ist durchaus programmatisch: Das Werk lebt, damit denkbar unähnlich der Fortuna-Messe, von der frei schweifenden, scheinbar ziellosen Fortspinnung. Es kennt kaum strukturelle oder dramatische Höhepunkte, auch keine architektonisch geplanten Verläufe, sondern lädt seine Hörer dazu ein, sich seinem bei aller Abwechslung ruhigem Fluss anzuvertrauen.3

Was kann Obrecht dazu veranlasst haben, ein derart ambitioniertes, großzügiges Werk zu schaffen? Eine eindeutige Antwort gibt es darauf nicht, wohl aber einige Anhaltspunkte. Obrecht legte hier zum ersten und einzigen Mal einer Messkomposition ein deutsches Lied zugrunde; ansonsten hatte er neben lateinischen nur französische und gelegentlich flämische Vorlagen verwendet. Gedruckt worden ist dieses Stück 1507, also zwei Jahre nach Obrechts Tod, in den Concentus harmonici quattuor missarum, peritissimi musicorum Jacobi Obrecht, dem ersten, in Basel entstandenen Druck mehrstimmiger Musik nördlich der Alpen überhaupt (er enthält auch die Missa Fortuna desperata). Es handelt sich um die einzige Quelle für dieses ungewöhnliche Werk überhaupt. Beides, Herkunft der Vorlage und Druckort, lassen vermuten, dass das Werk für einen deutschsprachigen Auftraggeber entstanden ist. Der einzige solche Patron, den wir in Obrechts Biographie kennen, war Kaiser Maximilian I. Nicht wenig spricht dafür, dass die Missa Maria zart auf den Kontakt mit dem kaiserlichen Hof und seiner Kapelle zurückgehen könnte – Birgit Lodes, die diese Zusammenhänge am intensivsten untersucht hat, schlägt sogar als einen denkbaren Entstehungsanlass einen Aufenthalt Philipps des Schönen in Augsburg im September 1503 vor.4

Wie auch immer es sich damit verhält – Obrecht hat in dieser Messe ein Lied zugrundegelegt, das zumindest im deutschsprachigen Raum in aller Munde war, und er hat alles unternommen, um dieses „Maria zart“ auch hör- und erfahrbar zu machen. Wie auch sonst gelegentlich benutzt er die Technik des „segmentierten“ Cantus firmus. Das Lied wird in seine zahlreichen, oft kurzatmigen Zeilen zerlegt und diese der Reihe nach den ersten vier Abschnitten, von Kyrie bis Sanctus, zugrunde gelegt. So liegt im ersten und im zweiten Kyrie die Doppelstrophe zu Beginn (der einzige wiederholte Teil) im Tenor, im Credo wiederum (das auch auf das gregorianische Credo I anspielt) werden nur die kleinen Vierton-Phrasen „Mein sünd und schuld“, „erwirb mir huld“ usw. gebracht. Zu der ungewöhnlichen Dimension der Messe trägt bei, dass alle diese „segmentierten“ Phrasen auch noch bis zu viermal wiederholt werden müssen, wobei sich diese Wiederholungen durch andere Mensurationsvorschriften in ihrem rhythmischen Wert verändern. (Der unbekannte Besitzer des einzigen erhaltenen Exemplars von Mewes’ Druck sah sich durch diese teils komplexen Vorschriften offenbar herausgefordert und stellte am Rand eigene Berechnungen an, um die Aufführung korrekt zu gewährleisten – wobei er sich jedoch meistens verrechnete.)

Der Auftraggeber, dem sicherlich an dem Lied und seinen wohltätigen Wirkungen gelegen hat, sollte in jedem Moment hörend der Weise begegnen. Nicht nur die den Cantus firmus tragende Stimme, auch die drei übrigen spielen immer wieder auf die Weise an. Gerade der charakteristische Anfang wird in Kyrie und Gloria auch zu Beginn jedes Binnenabschnitts zitiert. Auch andere markante Phrasen des Lieds durchsetzen das Gewebe der Stimmen: So setzt im scheinbar frei komponierten dreistimmigen Benedictus auf die Worte „in nomine“ plötzlich ein Zitat aus dem Lied in langen Notenwerten ein, das zudem eine gewichtige theologische Aussage trifft („erwirb mir huld/dann kein trost ist/durch mein verdienst“). Gustave Reese und Chris Maas haben entdeckt, dass auch im „Et incarnatus est“ die Melodie des Lieds versteckt ist: Singt man aus der Bass-Stimme ausschließlich die als Semibrevis notierten Töne, so ergibt sich die erste Hälfte der Melodie, und vollzieht man das gleiche Verfahren beim Sopran, so hat man auch die zweite Hälfte. Schließlich wird die Melodie mehrfach zur Gänze paraphrasiert: so im Domine deus des Gloria und im Agnus II; im ersten und im dritten Agnus wird sie (rhythmisch leicht verfremdet) im Bass bzw. Sopran gesungen. 

Aber nicht immer sind die Anspielungen so eindeutig: „Material aus dem Lied wird zitiert und in jedem denkbaren Grad von Verzierung verarbeitet, sodass die Grenze zwischen Zitat und Fortspinnung tatsächlich sehr schwer zu ziehen ist. Ja, die Melodie durchdringt die Schreibart so sehr, dass sie im Höreindruck geradezu Allgegenwärtigkeit entfaltet; diese Messe zu hören bedeutet, eine Sensitivität sogar für melodische Wendungen zu entwickeln, die kaum bewusste Anspielungen zu sein scheinen“, schreibt Rob Wegman, und schöner lässt es sich kaum sagen.5 Wer immer die Messe in Auftrag gegeben hat, er fand sich beschenkt mit einem Werk, aus dem ihm die wundertätige Melodie in jedem Takt mehr oder weniger deutlich entgegenzutreten schien.

WOLFGANG FUHRMANN


1   Vgl. Andreas Pfisterer, Zum Verhältnis der Fortuna-Messen von Josquin und Obrecht, in: Die Musikforschung 58 (2005), S. 267–273.
2   Birgit Lodes, „Maria zart“ und die Angst vor Fegefeuer und Malafrantzos: Die Karriere eines Liedes zu Beginn des 16. Jahrhunderts, in: Trossinger Jahrbuch für Renaissancemusik 1 (2001), S. 99–131, hier S. 110f.
3   Vgl. Rob C. Wegman, Born for the Muses. The Life and Masses of Jacob Obrecht, Oxford 1994, S. 322–330.
4   Birgit Lodes, Gregor Mewes’ „Concentus harmonici“ und die letzten Messen Jacob Obrechts, Habilitationsschrift Universität München 2002, S. 178f. Ich danke Birgit Lodes ganz herzlich dafür, mir Einsicht in diese noch unveröffentlichte Studie gegeben zu haben.
5   Wegman, Born for the Muses, S. 328. IM ORIGINAL: „Material from the tune is quoted and treated in every conceivable degree of ornamentation, so that the line between citation and spinning-out is in fact very hard to draw. Yet the melody penetrates the writing to such an extent that the aural impression is one of all-pervasiveness: to listen to this mass is to develop a sensitivity even to melodic turns that barely seem conscious allusions at all.”

beauty farm recordings
contact | beauty farm

[contact-form-7 id=“224″ title=“Kontaktformular 1″]

reviews