LA RUE – masses – beauty farm

Pierre de la Rue is one of the most fascinating and yet most elusive members of the supremely talented generation of composers from around 1500.  Apart from his will tentatively suggesting Tournai as his birthplace, we know nothing definite about his early years; any identification as the singer Peter van der Straten (the Dutch equivalent of the name Pierre de la Rue), active in The Netherlands and Germany between 1469/70 and 1492/93 has been put into question with good reason.

On the other hand, we know a great deal about the last twenty-six years of his life. La Rue became a member of the Burgundian Habsburg court chapel in service of Philip the Fair and subsequently his widow Joanna of Castile and finally his sister Margaret of Austria, sometime between 1489 and 15th November 1492 (the first recorded mention of his name). He passed the final years of his life, from 1516 to 20th November 1518 in Kortrijk, where he benefited from an ecclesiastical sinecure.

La Rue’s personality also remains elusive; not even the slightest anecdote gives any hint, unlike the cases of Busnois, Isaac or Josquin. We only know from his epitaph that he was devout, charitable and “chaste and free of the sins of Venus” (castus et a Veneris crimine mundus). That may well be true, for La Rue made his name with sacred music and there is no trace of the frivolous, dubious or obscene texts which his contemporaries were wont to set amongst his secular songs. The melancholic tone prevalent in many of his pieces can best be understood as part of the representational politics of his last employer Margaret of Austria, who owed her powerful position as Regent of the Netherlands to her status as a double widow. Margaret consciously emphasised her widowed condition which permeated the whole court with an atmosphere of mourning and melancholy.  But there are certainly other aspects to La Rue’s music.

LA RUE - Masses - beauty farm
artist

LA RUE – masses – beauty farm


beauty farm

Bart Uvyn [countertenor]
Hans Jörg Mammel | Hannes Wagner [tenor]
Joachim Höchbauer [bass]


fb 1800751
2 CD
Gesamtzeit ca. 129 min.
EAN 4260307437510


released in March 2018

FIRST RECORDINGS

tracks

LA RUE – masses – beauty farm


Pierre de La Rue   (c. 1460 – 1518)


A
Missa Almana   a 4
Missa de Sancto Antonio a 4


B
Missa Puer natus est nobis   a 4
Missa Tous les regretz   a 4


Text

Pierre de la Rue ist einer der faszinierendsten Komponisten der an Begabungen überreichen Generation um 1500 – und einer der am schwersten fassbaren. Abgesehen davon, dass sein Testament Tournai als Geburtsort zumindest nahelegt, wissen wir über seine frühen Jahre nichts Gesichertes; denn ob er mit dem zwischen 1469/70 und 1492/93 in den Niederlanden und Deutschland tätigen Sänger Peter vander Straten (niederländisch «von der Straße» = französisch de la Rue) zu identifizieren wäre, ist mit gutem Grund in Frage gestellt worden.1

Dafür sind wir über die letzten 26 Jahre seines Lebens im Detail informiert – er wurde irgendwann zwischen 1489 und dem 17. November 1492 (seiner ersten Erwähnung in den Akten) wurde La Rue Mitglied der habsburgisch-burgundischen Hofkapelle, die zunächst im Dienste des Habsburgers Philipps des Schönen, dann dessen Witwe Juana von Kastilien, zuletzt dessen Schwester Margarete von Österreich stand; seine letzten Lebensjahre, 1516 bis zu seinem Tod am 20. November 1518, verbrachte er in Kortrijk, wo er eine kirchliche Pfründe besaß. 

Schwer fassbar erscheint die Persönlichkeit La Rues. Nicht die kleinste Anekdote verrät etwas davon – im Gegensatz etwa zu Busnois, Isaac oder Josquin; und seine Grabinschrift verrät uns lediglich, dass er fromm, wohltätig sowie »keusch und frei vom Verbrechen der Venus« (castus et a Veneris crimine mundus) war. Das mag wohl stimmen; tatsächlich hat La Rue (wie auch die Inschrift besagt) sich mit geistlicher Musik einen Namen gemacht, und unter seinen weltlichen Chansons sucht man nach leichtfertigen und vor allem nach zweideutigen oder obszönen, wie sie seine Zeitgenossen komponierten, vergeblich.

Der Ton der Melancholie, der in vielen seiner Stücke vorherrscht, lässt sich aber auch als Teil der Repräsentationspolitik seiner letzten Dienstherrin Margarete von Österreich begreifen, die ihre machtvolle gesellschaftliche Rolle als Statthalterin der Niederlande aufgrund ihres doppelten Witwen-Status ausübte. Margarete pflegte den Stand der Witwe sehr bewusst, ihre ganze Hofhaltung und die damit verbundene Kultur der Trauer und der Melancholie waren darauf angelegt.2 Und sicherlich kennt La Rues Musik auch andere Register.

Jedenfalls muss «Pierchon», wie er in den Hofakten oft genannt wird, spätestens in den 1490ern als Komponist hervorgetreten sein. Die frühesten Quellen seiner Musik sind zwar erst um 1500 entstanden, doch zeigen sie bereits einen über seine Mittel souverän verfügenden Komponisten. Auch später hat La Rue nie etwas Besseres komponiert als so tief melancholische Chansons wie Tous les regretz oder Pourquoy non, die virtuose Missa L’homme armé oder die ausdrucksvolle Missa Nunque fue pena mayor. Schon 1501 verlieh Philipp der Schöne «petri de vico … musico et capellano nostre capelle domestique» eine kirchliche Pfründe; dass La Rue hier nicht als Sänger (cantor), sondern als musicus, das heißt als musikalisch Sachverständiger, benannt wird, ist auch als Anerkennung seiner kompositorischen Leistungen zu verstehen.

Zwei der Messen auf dieser Aufnahme – Almana und Puer natus est – sind in dem Druck Misse Petri de la Rue überliefert, den Ottaviano Petrucci in Venedig am 31. Oktober 1503 publizierte – der einzige ganz diesem Komponisten gewidmete Druck seiner Zeit. Möglicherweise ist die Missa Almana sogar die früheste erhaltene Messenkomposition La Rues, denn sie ist auch in einem eher retrospektiven Manuskript der Zeit, dem Chigi-Codex überliefert, und sie enthält als einzige Messe in La Rues Werk zwei «Christe», ein vier- und ein dreistimmiges, was vielleicht auf einen anderen liturgischen Kontext als den habsburgischen Hof hindeutet. Jedenfalls wirft das Werk einige Fragen auf. Die Bezeichnung Almana ist bis heute nicht entschlüsselt, und wenn sie auf ein Modell des Stücks hindeutet, dann auf ein besonders rätselhaftes. Jeder der Sätze beginnt, wie es für eine Messkomposition dieser Zeit typisch ist, mit einem musikalischen Motto, das im Kern aus einer Tonfolge von aufsteigenden Quarten und absteigenden Sekunden besteht – etwa folgendermaßen: c – f – e – a (und manchmal noch: g – c´).

Diese eckige Stimmführung macht einen Bezug auf eine Choralmelodie als Vorlage recht unwahrscheinlich und lässt eher eine weltliche Komposition vermuten. Das Motto wird zu Beginn eines Satzes in mehreren oder allen Stimmen angedeutet und erklingt unweigerlich beim ersten Einsatz des Tenors, der traditionellen Hauptachse. Doch wird die Fortsetzung höchst frei behandelt und im weiteren Verlauf wird es immer schwieriger zu erkennen, ob und welche Übereinstimmungen zwischen den Tenormelodien bestehen: Manchmal hebt der Tenor einige Töne in langen Noten hervor (meist ein sicherer Hinweis auf ein Modell); dann verstrickt er sich wieder in freies Motivspiel mit den anderen Stimmen; das dritte Agnus beginnt schließlich als eine Art Fantasie über das Kernmotiv der aufsteigenden Quart. Wenn La Rue sich hier durchgängig auf ein melodisches Modell bezog, dann wusste er es gut zu verstecken.

Wenn wir heute über den Titel Almana rätseln, mag es vielleicht beruhigen (oder beunruhigen), dass er schon den Zeitgenossen Rätsel aufgab und teilweise ersetzt wurde: In einer Handschrift der Cappella Sistina wird das Stück Missa Pourquoy non betitelt, weil die drei ersten Töne des charakteristischen Hauptmotivs (aber nur diese) an den Beginn von La Rues gleichnamiger Chanson erinnern; Petrucci nannte die Messe in seinem Druck einfach sachlich «Sexti. Ut fa», benannte also Tonart (sechster Modus) und Anfangsintervall. Was aber kann Almana meinen? Handelt es sich um eine Verballhornung der Tanzbezeichnung Allemande? (1521 wird «La allemande» erstmals in einem englischen Tanztraktat erwähnt, doch schon in den 1480ern ist von einem «saltarello tedesco», einem deutschen Springtanz die Rede.)

Doch die regelmäßige, oft von Wiederholungen geprägte Phrasenstruktur, die den frühesten Allemanden eigen ist, weist La Rues Material offenbar nicht auf. Oder verbirgt sich das spanische alemana hinter dem Titel? «Die Deutsche» könnte sich dann auf Margarete von Österreichs Zeit in Spanien als Frau des Prinzen Juan von Aragón und Kastilien (gestorben 1497) beziehen. (Das hebräische ’almānâ bedeutet frappierenderweise «Witwe» – doch wie wäre La Rue darauf verfallen?) So bleibt die Bezeichnung rätselhaft, ähnlich wie bei Jacob Obrechts Missa graecorum oder Antoine Brumels Missa de dringhs.

Wenn nicht alles täuscht, ist die Missa Puer natus est nobis, die gleichzeitig mit der Missa Almana in Petruccis Druck von 1503 erschien, das etwas spätere und reifere Werk. Jedenfalls zeigt es größere Ausgewogenheit in den unterschiedlichen kompositorischen Impulsen, die La Rues Werk prägen sollten: in der Art und Weise, wie die für ihn typische Liebe zur Vollstimmigkeit (kein Satz beschäftigt weniger als drei Stimmen) durch imitatives Motivsipiel zwischen den Stimmen aufgelockert wird, und wie andererseits La Rues (epochentypische) Neigung zur Imitation, häufig auch zu Ostinato-Passagen, durch sein leicht subversives Interesse an unvorhersehbarer Asymmetrie und vor allem an weitgespannten Linien und Entwicklungen konterkariert wird. Klanglich ist die Messe heller als die Missa Almana; ihr Register liegt im allgemeinen etwa eine Quarte höher.

Hier ist das Modell leicht zu identifizieren: Es handelt sich um den Introitus (Einzugsgesang) der Messe am ersten Weihnachtstag. La Rue zitiert den Choral vollständig und ziemlich notengetreu; die beiden markanten aufsteigenden Quinten zu Beginn der ersten und der zweiten Zeile spielen in der Messe eine prominente Rolle und eröffnen oft wichtige Binnenabschnitte: Geradezu dramatisch wird so das «Et resurrexit» des Credo markiert (und im anschließenden «Et ascendit» wird Christi Himmelfahrt durch aufsteigende Tonleitern symbolisiert). Eine Besonderheit dieses Werks verzeichnete schon der Musiktheoretiker Heinrich Glarean: dass nämlich der Introitus eigentlich im mixolydischen Modus steht (was für unsere Ohren wie «Dur» klingt), in der Messe aber in den dorischen Modus versetzt wird (also mit einer «Moll»-Terz). La Rue spielte gerne mit modalen Zweideutigkeiten; in unserer Aufnahme wird der mixolydische «Flair» der ursprünglichen Melodie durch die große Sext über dem Grundton beibehalten.

Die Verwendung des Weihnachtsgesangs weist der Messe zugleich einen liturgischen Ort zu; das ist für viele von La Rues Messen typisch, auch für die Missa de sancto Antonio, die wohl primär am 17. Januar, dem Festtag des Heiligen, gesungen wurde. Allerdings war die Verehrung dieses Heiligen sehr allgemein, auch Guillaume Dufay hat ihm eine Messe gewidmet; dass er der Namenspatron von Margaretes Vertrautem (und vielleicht auch Geliebtem), dem Höfling Antoine de Lalaing, war, sei nur am Rande vermerkt. Die Antonius-Messe dürfte wenige Jahre nach den bisher diskutierten entstanden sein; da eine ihrer Quellen (Brüssel 9126) für Margaretes Bruder Philipp bestimmt war, muss sie jedenfalls vor dessen Tod im September 1506 komponiert worden sein. 

Die Messe beruht auf einer Antiphon für den heiligen Abt Antonius, einen Asketen und den Begründer des Mönchtums in seiner ersten Ausprägung, die sogenannten Wüstenväter. Diesen Sachverhalt skizziert die Antiphon «Sanctus Anthonius habitans in abditis inter primos heremi cultores inventus est in egipto», deren – manchmal bis zur Unkenntlichkeit ausgeschmückte – Melodie der Messe zugrundeliegt. Der Cantus firmus ist gelegentlich auch mit anderem Text überliefert: in einer Handschrift aus der Werkstatt des Petrus Alamire (Wien 1783) lautet er «O sacer Anthoni precibus pro nostra salute», in einer anderen Quelle, Verona 756, «Agnosce O vincenti» –  offenbar war der (unbekannte) Empfänger dieser Handschrift ein Verehrer des in Italien populären Heiligen Vincenz, so dass die Anthonius-Messe kurzerhand «umgewidmet» wurde.

Die Messe hat viel Bewunderung erregt; der Musikforscher André Pirro hat an diesem Werk La Rues «melodische Gabe» bewundert: «In einem einzigen Atemzug entfaltet die Sopranstimme im ersten Kyrie eine aufsteigende Vokalise».3 Theodore Karp hat an demselben Satz die Komplexität von La Rues Behandlung von Rhythmus und Metrum gezeigt.4 Beide Qualitäten sind jedoch keineswegs auf diesen Satz oder auch nur dieses Werk beschränkt. Ebenso originell ist etwa das «Benedictus», in dem eine einzige melodische Wendung (die sich übrigens kaum auf den Choral beziehen lässt) reihum in Bass, Tenor und Sopran erklingt und von den anderen Stimmen immer neu umspielt wird.

Beträchtlich später, vielleicht erst um 1515, entstand la Rues Missa Tous les regretz, eines seiner beliebtesten späten Werke. Mit ihr knüpfte er an die bereits erwähnte, wohl schon vor 1500 entstandene gleichnamige Chanson an, die ihresgleichen nicht hat in der dichten Verwebung ausdrucksvoll-melancholischer Wendungen. Im Gegensatz zu den drei anderen Messen ist diese eine «Parodie»- oder «Imitations»-Messe (wie es bei weltlichen mehrstimmigen Vorlagen üblich war) – das heißt, sie greift Material aus allen Stimmen ihrer Vorlage auf, variiert, erweitert, kombiniert es, scheint den Bezug auf die Chanson streckenweise zu verlieren und findet ihn dann doch, oft nur für wenige Takte, wieder. Dabei steht das Kyrie der alten Chanson und der Abfolge ihrer Motive am nächsten, während die folgenden Sätze immer freier mit dem Material umgehen.

Aber La Rue überdenkt nicht nur das ihm so vertraute Material und seine Anordnung, er filtert es auch durch einen neuen musikalischen Ansatz – die Textdarstellung durch Deklamation und Imitation erreicht hier eine bei ihm zuvor selten bekannte Prägnanz. La Rues Messe verliert so streckenweise den Charakter melancholischer Klage und gewinnt eine neue, fast euphorische Klarheit und Heiterkeit. Und doch gewinnt gerade das Flehen um göttliches Erbarmen (miserere nobis) im Gloria – mit dem so überraschend wie eindringlich tiefen Klang des «suscipe deprecationem nostram» – und im ersten Agnus klanglich sprechende Eindringlichkeit.

 Wolfgang Fuhrmann


[1]   Honey Meconi, Pierre de la Rue and Musical Life at the Habsburg-Burgundian Court, Oxford – New York 2003, S. 10-19.

[2]   Vgl. Vincenzo Borghetti, Trauer, Hoffnung der Frauen. Tod, Leiden und Macht in Margarete von Österreichs Chansonnier Brüssel, BR 228, in: Die Tonkunst 11 (2017), Heft 2, S. 159-166.

[3]   André Pirro, Histoire de la Musique de la fin du XIVe siècle à la fin du XVIe, Paris 1940, S. 231.

[4]   Theodore Karp, Mensural Irregularities in La Rue’s Missa de Sancto Antonio, Israel Studies in Musicology 5 (1990), S. 81-95.

buy

JPC

beauty farm recordings
reviews