GOMBERT – masses – beauty farm

In our time, however, there are new inventors, including Nicolas Gombert, a pupil of Josquin, who shows all musicians the direction, even the right way, to invent imitations and subtleties, and he is the inventor of a music that is very different from the earlier ones. He avoids pauses and his compositional style is full of harmony and imitation…


In unserer Zeit aber gibt es neue Erfinder, unter denen sich Nicolas Gombert befindet, Schüler des Josquin seligen Angedenkens, der allen Musikern die Richtung zeigt, ja sogar den rechten Weg, um Nachahmungen und Subtilitäten zu erfinden, und er ist der Erfinder einer von den Früheren ganz unterschiedlichen Musik. Dieser nämlich vermeidet die Pausen, und seine Kompositionsart ist voller Zusammenklänge wie auch Nachahmungen…

Four Masses by Nicolas Gombert
Apple Music

artist

GOMBERT – masses – beauty farm


beauty farm

Bart Uvyn [countertenor]
Adriaan De Koster | Tomáš Lajtkep | Achim Schulz | Tore Tom Denys | Hannes Wagner [tenor]
Julián Millán | Philipp Kaven  [bariton]
Joachim Höchbauer [bass]


fb 2005329
2 CD
total time c 145 min.
EAN 4260307433291


released in November 2020

tracks

GOMBERT – masses – beauty farm


Nicolas Gombert   (c 1495 – c 1560)


A
Missa A la Incoronation  a 5
Media vita  a 6
Missa Media vita  a 5


B
Missa Philomena praevia   a 5
Beati omnes  a 5
Missa Beati omnes   a 4


Text

Radikale Umschwünge lassen sich in der Musikgeschichte immer wieder beobachten: Stile, Gattungen, Techniken ändern sich fundamental oder werden ganz durch Neues verdrängt. So viel etwa Carl Philipp Emanuel Bach bei seinem Vater Johann Sebastian nach eigener Aussage gelernt hat, so wenig ähnelt seine musikalische Sprache der des Thomaskantors. So viel Beethoven Mozarts Sonatenform und Haydns motivisch-thematischer Arbeit verdankte, sein Tonfall und seine Syntax sind doch unverkennbar neu. Und so weiter: Evolution und Revolution, Verpflichtung an das Erbe und Aufbruch zu neuen Ufern sind oft eng miteinander verknüpft, Wandlungen von Mentalitäten und gesellschaftliche Umbrüche spiegeln sich in ästhetischen Generationskonflikten wider.

So sind auch die in sich vielfältigen Innovationen der großen Komponistengeneration um 1500 – verbunden mit Namen wie Jakob Obrecht, Josquin Desprez, Pierre de la Rue, Heinrich Isaac, Antoine Brumel, Jean Mouton – von ihren Nachfolgern zugleich fortgesetzt und negiert worden. Obwohl auch Komponisten wie Adrian Willaert, Jean Richafort, Jacquet von Mantua, Cristóbal de Morales, Nicolas Gombert oder die ein wenig jüngeren Clemens non Papa, Cipriano de Rore oder Thomas Crecquillon sicherlich mit den Leistungen ihrer Vorgänger vertraut waren und in ihren Frühwerken auch teils deutlich daran anknüpften, entwickelten sie doch rasch eine abweichende Ästhetik. Oft zitiert, aber auch hier unentbehrlich sind die Sätze eines kompetenten Beobachters dieser Entwicklung, des Komponisten und Musiktheoretikers Hermann Finck. In seinem Lehrwerk Practica Musica, erschienen 1556, schrieb Finck: „Damals nämlich [das heißt vom Jahr 1480 an] blühte Josquin Desprez, der wahrhaftig der Vater der Musiker genannt werden kann, dem vieles zuzuschreiben ist: Er war nämlich vielen an Subtilität und Lieblichkeit überlegen, doch ist er in seiner Kompositionsart nackter, das heißt, obwohl er im Erfinden von Nachahmungen überaus scharfsinnig ist, verwendet er dennoch viele Pausen. … In unserer Zeit aber gibt es neue Erfinder, unter denen sich Nicolas Gombert befindet, Schüler des Josquin seligen Angedenkens, der allen Musikern die Richtung zeigt, ja sogar den rechten Weg, um Nachahmungen und Subtilitäten zu erfinden, und er ist der Erfinder einer von den Früheren ganz unterschiedlichen Musik. Dieser nämlich vermeidet die Pausen, und seine Kompositionsart ist voller Zusammenklänge wie auch Nachahmungen.“[1]

Knapp, aber scharf und treffend ist diese Charakteristik, wie wir noch sehen werden. Bemerkenswert erscheint zunächst zweierlei: Zum einen nennt Finck Gombert den Schüler Josquins, zum anderen aber benennt er im gleichen Satz die tiefgreifenden stilistischen Unterschiede zwischen beiden Komponisten. „Schüler“ (discipulus) ist in diesem Zusammenhang also nicht als Metapher einer stilistischen Nachfolge gemeint, sondern muss wohl wörtlich, biographisch verstanden werden: Nicolas Gombert ist vermutlich in der kleinen Siedlung La Gorgue geboren worden, wo der Name Gombert bis heute verbreitet ist. La Gorgue (heute im französischen Département Nord in der Region Hauts-de-France) liegt von Condé-sur-l’Escaut, wo Josquin von 1504 bis zu seinem Tod 1521 lebte, nur etwa 65 Kilometer Luftlinie entfernt. Dass der junge Gombert als Chorknabe an der Kollegiatkirche von Condé, der Josquin als Probst vorstand, das Singen, Improvisieren und vielleicht auch Komponieren von dem älteren Meister gelernt hat, ist somit ein attraktives, wenn auch nicht mehr dokumentierbares Szenario. Jedenfalls sieht Finck beide als die wichtigsten Komponisten ihrer Zeit.

Ansonsten sind wir über die frühen Jahre Gomberts nicht informiert; die Annahme eines Geburtsdatums um 1495 beruht auf Spekulation. Erst 1526 erscheint er auf der Bildfläche: als Sänger in einer der wichtigsten Hofkapellen der damaligen Zeit, im Dienste von Kaiser Karl V. Da sich Karl in diesem Jahr durchgängig in Spanien aufhielt, muss Gombert wohl von einem musikalischen Agenten in Frankreich oder Italien rekrutiert worden sein, was heißt, dass er bereits einen gewissen Ruf hatte. In der Tat liegt die Vermutung nahe, dass seine kompositorischen Qualitäten ihn für die Tätigkeit in der kaiserlichen Kapelle empfohlen hatten, denn auch wenn er niemals Kapellmeister wurde, war er doch bald der inoffizielle Hofkomponist geworden. Gleich 1526 könnte er für die Hochzeit Karls mit Isabella von Portugal am 10. März in Sevilla die Motette Veni electa mea komponiert haben; allerdings ist das Stück anderswo unter dem Namen Jacquets von Mantua überliefert.[2] 1527 komponierte er Dicite in magni für die Geburt von Karls Sohn Philipp (dem späteren Philipp II.). 1531 schuf er Felix Austriae domus zur Krönung von Karls Bruder Ferdinand I. zum römischen König (Ferdinand übernahm die Verwaltung des Reichs in Mitteleuropa), und 1533 Qui colis Ausoniam für ein Bündnis zwischen dem Kaiser, Papst Clemens VII. und anderen italienischen Herrschern in Bologna.

Angesichts dieser wichtigen Daten wäre es kaum vorstellbar, wenn Gombert zu dem zentralen politischen Ereignis dieser Jahre, der offiziellen Wahl und Krönung Karls V. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches durch den Papst (1530), musikalisch nichts beigetragen hätte. In der Tat gibt es eine Messe von ihm, die von dem Verleger Girolamo Scotto 1542 als Missa de la Incoronation bezeichnet wurde, als Krönungsmesse mithin. Aber der eigentlich treffende Titel des Werks ist Missa Sur tous regretz. Das Stück ist nämlich, wie fast alle Messen Gomberts, eine sogenannte Parodiemesse. Es nimmt eine präexistente Komposition, in diesem Fall die Chanson Sur tous regretz seines etwas älteren Generationskollegen Jean Richafort, als musikalische Materialbasis.[3]

Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings diese Chanson als eine recht eigentümliche Wahl für eine Krönungsmesse. Sie gehört der um 1500 populären melancholischen Mode der „Regretz“-Chansons an, und Richafort hat sicher eines der melancholischsten geschrieben: Die Oberstimme scheint sich oft motivisch unabhängig von den tieferen in ihren eigenen Gedanken und Fiorituren zu verlieren, und am Ende kehrt in Tenor und Bass der Beginn wieder, als hätten die Überlegungen zu nichts geführt (Gombert sollte diesen formalen Rückgriff in sein Gloria übernehmen). Tatsächlich aber scheint der Text dieser Chanson eine Parodie zu sein: „Car j’ai perdu l’amiable liqueur /que tant je plains et plaindrai en ample heure.“ (Denn ich habe die liebliche Flüssigkeit verloren, sodass ich weine und lange weiterweinen werde.) Auch wenn „liqueur“ im Französisch des 16. Jahrhunderts generell „Flüsssigkeit“ bedeutete, ist wohl klar, um welche Art von Getränken es sich hier handelte … Hätte sich Karl V. tatsächlich eine solche Chanson als feierliche Grundlage seiner Krönung gewünscht?

Falls die Messe tatsächlich 1530 entstanden sein sollte, wäre sie eines der frühesten erhaltenen Werke Gomberts (gedruckt wurde sie erst 1542; die Messen Quam pulchra es und Da pacem waren 1532 die ersten publizierten). Tatsächlich zeigt sie einige Eigentümlichkeiten, die sich beim reiferen Gombert nicht mehr finden, unter anderem eine Neigung zu Ostinati, also in kurzen Abständen wiederholten musikalischen Phrasen. Man kann etwa zu Beginn des letzten Kyrie gut hören, wie oft das eingangs vom Sopran intonierte Motiv in dieser und den anderen Stimmen wiederkehrt (es durchzieht auch andere Sätzen, etwa das „Deum de deo“ des Credo). Im Credo sticht das dreifach wiederholte Sopran-Motiv auf „Jesum Christum“, „filium Dei“, „filium Dei unigenite“ heraus, zudem auch die tieferen Stimmen ihre Motive wiederholen. Für Gombert ungewöhnlich scharf geschnitten ist auch der Abschnitt im Tripelmetrum ab „Confiteor unum baptisma“. Derartige überschaubare Gliederungen sind noch ein Erbteil der Josquin-Generation, ebenso die geringstimmigen und stark imitativen Passagen des dreistimmigen Crucifixus und Pleni und des zweistimmigen Benedictus; und im auf sechs Stimmen ausgeweiteten Schluss-Agnus zitiert Gombert die Oberstimme der Vorlage im Sopran vollständig, ein traditionelles Verfahren, das er später nicht mehr anwandte.

Die übrigen drei Messen und ihre Vorlagen sind (noch) stärker dem Ideal verpflichtet, das Finck mit seinen Bemerkungen über die fehlenden Pausen, den daraus resultierenden reicheren Klang und die engen Imitationen bei Gombert skizziert hat. Damit ist Gomberts Stil gut gekennzeichnet: Er ist voll dicht verwobener, fast pausenloser Imitationen oder Nachahmungen einer Stimme durch die anderen in relativ regelmäßig dahinfließenden Rhythmus, wobei Gombert selten ganz exakte Nachahmungen schreibt, sondern die Motive in den einzelnen Stimmen bewusst variiert. So homogen seine gerne in tiefen Tonlagen gehaltenen und oft von scharfen Dissonanzen geprägten Werke auf die Hörer wirken, innen gleichen sie einem labyrinthischen Mosaik aus ähnlichen, aber fast nie gleichen Gliedern. Denn Gombert liebt das Asymmetrische, Ungenaue, Unvorhersehbare. Und er liebt den ununterbrochenen Fluss: Kadenzen, sonst der Anlass innezuhalten, werden durch den Einsatz eines neuen Imitationsmotivs überspielt und überlagert, selbst nach der Schlusskadenz scheint das Stück eher zu verklingen als zu enden. Auch die Textdarstellung ordnet sich diesem Strömen unter; emphatisch hervorgehobene oder gar klanglich expressiv aufgeladene Textpassagen finden sich bei ihm kaum.

Man könnte den Gesamteindruck mit dem Musiktheoretiker Giovanni Maria Artusi als „richezza d’harmonia“ bezeichnen oder, mit einem Ausdruck der Popmusikgeschichte des 20. Jahrhunderts, als „wall of sound“ – eine Wand aus dichtem Klang, der freilich ununterbrochen in sich fluktuiert.[4]Damit ist, und das dürfte der wichtigste Unterschied zur Generation um 1500 sein, ein in sich konsequenter Stil geschaffen, der alle Werke des reifen Gombert sofort erkennbar macht. Keine Messe Josquins gleicht in ihrer Anlage ganz einer anderen; aber alle Messen Gomberts sind von den beschriebenen stilistischen Verfahren durchgängig geprägt.

Die sechsstimmige Motette „Media in vita“ mit ihrer Meditation über die Allgegenwärtigkeit des Todes weist zudem durch die Dichte der tiefen Stimmen einen düsteren, schweren Klang auf, der für die Ästhetik Gomberts typisch ist; die Motette beruht auf der gleichnamigen Antiphon, sodass sich die Motive sich an den typischen, oft schrittweise voranschreitenden gregorianischen Floskeln orientieren. In der Messe über dieses Werk wird diese gleichsam „anonyme“ Motivik frei entwickelt; bald verlieren die Hörer die Orientierung, ob hier noch ein Bezug zu der ursprünglichen Vorlage oder nur eine ähnlich klingende Bildung vorliegt. Dieser von Gombert bewusst kalkulierte Unschärfeneffekt wird durch den fast völlig vorherrschenden gleichmäßigen Rhythmus unterstrichen, wodurch im Credo schon der Sprung ins Dreiermetrum bei „Et unam sanctam catholicam ecclesiam“ zum Ereignis wird. Das letzte Agnus erklingt auf die Sechsstimmigkeit der Motette erweitert und wird damit zum klanglich imposanten Abschluss. Bemerkenswert häufig tritt in dieser Messe ein Manierismus Gomberts auf: Bei Kadenzbildungen erklingt der erhöhte Leitton, der zum Grundton zurückführt (z. B. cis) zugleich mit seiner natürlichen Stufe in einer anderen Stimme (z. B. c), ein schneidender Effekt „linearen“ Kontrapunkts.

Es liegt verführerisch nahe, den düsteren Ton dieser Messe, der auch in anderen Werken Gomberts, etwa Chansons, zu spüren ist, mit dem wohl verstörendsten Ereignis in der Biographie des Komponisten in Verbindung zu bringen. Ab 1529 war Gombert maître des enfants, also Erzieher der Chorknaben in Karls Kapelle, doch um 1540 verschwindet sein Name plötzlich aus den Akten. Lange Zeit stand die Forschung vor einem Rätsel, bis in den Schriften des Mediziners und Gelehrten Girolamo Cardano (1501–1576) der Bericht entdeckt wurde, Gombert hätte einen Chorknaben vergewaltigt und sei dafür auf die Galeeren verbannt worden, allerdings nur in Fußketten, also wohl ohne Ruderdienst. Cardano merkt auch an, dass ein anderer Komponist, Dominique Phinot, für vergleichbare Vergehen enthauptet und verbrannt worden sei. Gombert hingegen konnte sich nach Cardanos Bericht durch „Schwanengesänge“ (cygneas … cantiones) wieder die Gunst des Kaisers erwerben und sich auf eine Pfründe (vermutlich ein Kanonikat in Tournai) zurückziehen, wo er den Rest seines Lebens still verbrachte.[5] Als diesen Schwanengesang hatte man lange die späten Magnificat-Kompositionen angesehen; einer neueren These zufolge handelt es sich hier jedoch um Gomberts erstes im Druck erschienenes Motettenbuch zu vier Stimmen (Venedig 1539).[6]

Einen freudigeren Ton schlagen die Motette „Beati omnes“ und die darauf beruhende vierstimmige Messe an. Das dürfte mit dem Text des Psalms zusammenhängen, der die Freuden der Ehe beschreibt („Deine Frau wird sein wie ein fruchtbarer Weinstock drinnen in deinem Hause, deine Kinder wie junge Ölbäume um deinen Tisch her“, übersetzte Luther). Dieser Psalm wurde gerne – etwa von Ludwig Senfl – für Hochzeitsfeierlichkeiten komponiert, und ein solcher Anlass läge auch hier nahe. Der Modus der Motette – mixolydisch– ist unserem Dur zumindest verwandt,[7] und die von Dreiklängen und Quartauftakten geprägten, also fanfarenhaften Motive evozieren eine festliche Stimmung, die im abschließenden Agnus zur Fünfstimmigkeit erweitert wird. Wie oft in Parodiemessen fällt auf, dass Gombert sich hier von einem vergleichsweise engen Bezug zur Vorlage zu Beginn allmählich entfernt und in Sanctus und Agnus das Eröffnungsmotiv nach Art einer Fantasie mit neuen Kontrapunkten versieht.

Mit dem letzten Werk kehren wir wieder zu einer (scheinbar) weltlichen Vorlage zurück, ebenfalls von Jean Richafort geschrieben: der Motette Philomena praevia. Als sich 1549 der Erzpriester der Santa Casa von Loreto, Bernardino Cirillo, über den Brauch erregte, Vorlagen wie L’homme armé,  Hercules Dux Ferrarie oder eben Philomena praevia für Messen zu gebrauchen, tat er dies aus der Perspektive der Gegenreformation: „Was zum Teufel hat die Messe mit dem bewaffneten Mann zu tun, oder mit Philomena, oder mit dem Herzog von Ferrara? […] Bei der Liebe Gottes, sagt mir, welche frommen Gefühle der Herzog von Ferrara erregen kann?“[8] Cirillo war die tiefe Verflochtenheit von geistlichen und weltlichen Motiven in der europäischen Kultur fremd geworden, und aus dieser Perspektive kritisierte er nicht nur Werke Josquins und anderer, sondern auch seiner direkten Zeitgenossen. Mit „Philomena“ spielt er offenbar auf die Parodiemessen über Richaforts Philomena praevia an, neben jener von Gombert gibt es auch solche Messen von Claudin de Sermisy und Philippe Verdelot (sowie eine vierte, vielleicht irrtümlich ebenfalls Verdelot zugeschriebene Messe).

Hier irrte Cirillo allerdings in seiner Kritik, denn diese Motette beruht keineswegs auf einem weltlichen Text. „Philomena“ ist keine der zahlreichen jungen Damen, die in der Renaissancemusik besungen werden, sie ist auch nicht einfach die Nachtigall, als die sie im Text erscheint. Richafort hat hier das Gedicht „Philomena, praevia temporis amoeni“ des mittelenglischen Mystikers John Pecham vertont, das auch dem heiligen Bonaventura zugeschrieben wurde, und das die Heilsgeschichte in den liturgischen Ablauf eines einzelnen Tages hineinliest. Die Nachtigall war eben auch ein Christus-Symbol. Freilich vertonte Richafort nur die ersten, eher pastoralen als religiösen Zeilen.

Der Vergleich gerade dieses Stücks mit Gomberts Parodiemesse ist höchst interessant. Wo Richafort die Ode an die Nachtigall durch klar geschnittene Imitationsmotive in durchsichtiger Satzweise und mit deutlicher Abschnittsbildung vorträgt, da greift Gombert dieses Material nur auf, um es seinem eigenen Stilideal anzupassen. Zu Beginn von Richaforts Motette schimmert noch das alte Modell „paariger Stimmführung“ der Josquin-Generation durch: Zuerst setzen die beiden tiefen Stimmen ein, dann werden ihre Motive (wenn auch nicht ganz notengetreu) von den beiden oberen übernommen. Anschließend setzt das nächste Motiv ein: eine klare und durchsichtige Textur mit vielen Pausen, also „nackt“, wie Finck gesagt hätte. Bei Gombert hingegen wird schon im ersten Kyrie der Klang fast sofort verdichtet; bereits im vierten Takt wird die Vierstimmigkeit erreicht und fast durchweg sind in der Folge vier oder alle fünf Stimmen aktiv; das zweite Motiv klingt in die Kadenz hinein und so weiter. Die Vorlage wird dem eigenen Stil anverwandelt. Es war die dadurch erzeugte „richezza dell’harmonia“, das Ideal eines vollen, homogenen Klangs, mit dem Gombert den Komponisten seiner Zeit, wie Finck sagte, den rechten Pfad wies. Noch nachhaltig erfolgreicher in dieser Propagierung eines einheitlichen Stils sollte sich eine Generation später wiederum Giovanni Pierluigi da Palestrina erweisen.

Wolfgang Fuhrmann

[1] H. Finck, Practica musica, Wittenberg 1556, fol. Aijr: „Floruit tunc etiam Iosquinus de Pratis, qui uere pater Musicorum dici potest, cui multum est attribuendum: antecellit enim multis in subtilitate & suavitate, sed in compositione nudior, hoc est, quamvis in inueniendis fugis est acutissimus, utitur tamen multis pausis. […] Nostro verò tempore noui sunt inuentores, in quibus est Nicolaus Gombert, Iosquini piae memoriae discipulus, qui omnibus Musicis ostendit viam, imò semitam ad quaerendas fugas ac subtilitatem, ac est author Musices plane diuersae à superiori. Is enim vitat pausas, & illius compositio est plena cùm concordantiarum tùm fugarum.“

[2] Vgl. Owen Rees, Rees, Guerrero’s ›L’homme armé‹ Masses and Their Models, in: Early Music History 12 (1993), S. 19–54, v.a. 48f. und 51–54.

[3] Zu den Parodiemessen von Gombert siehe grundsätzlich Jakob Hauschildt, Studien zu den Parodiemessen des Nicolas Gombert, Diss. Universität Kiel 2006.

[4] Giovanni Maria Artusi, L’arte del contraponto, Venedig 1598, S. 36. https://de.wikipedia.org/wiki/Wall_of_Sound

[5] Clement A. Miller, Jerome Cardan on Gombert, Phinot, and Carpentras, in: Musical Quarterly 58 (1972), S. 412–419.

[6] Alan Lewis, Nicolas Gombert’s First Book of Four-Voice Motets: Anthology or Apologia?, in: Francis Maes (hg.), The Empire Resounds: Music in the Days of Charles V., Leuven 1999, S. 47–62.

[7] Hauschildt, Studien, S. 66–76, konstatiert Anklänge an die Psalmformel des achten Modus (hypomixolydisch), argumentiert aber insgesamt für den siebten (mixolydisch).

[8] Cirillos Brief wurde oft zitiert, vgl. beispielsweise Andrew Kirkman, The Cultural Life of the Early Polyphonic Mass: Medieval Context to Modern Revival, Cambridge (Cambridge University Press) 2010, S. 316.

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